Der Apfel der Erinnerung

Lea wühlte aufgeregt in der grauen Papiertüte, die ihre Mutter vorsichtig in die Wohnung trug. Jeden Monat gab es die Lotterie, aber dieses Mal hatte ihre Glückszahl gewonnen. In der Tüte war kein zusätzliches Nährstoffpaket oder synthetisches Fleisch, sondern etwas Rundes, Rotes – ein Apfel.

Lea kannte Äpfel nur aus den Geschichtsbüchern. Sie waren echtes, unverändertes Essen aus einer Zeit, bevor alles gentechnisch manipuliert wurde. Hunger war damals kein Problem, so stand es geschrieben. Lea betrachtete den Apfel mit Misstrauen. Er sah fremd und gefährlich aus.

Ihre Eltern starrten den Apfel ebenso fassungslos an. Tränen traten in die Augen ihrer Mutter. “Mama, warum weinst du?”, fragte Lea verwirrt.

Ihre Mutter lächelte traurig. “Das ist Essen, Lea. Echte Nahrung, die nicht nur satt macht, sondern schmeckt.” Sie strich sanft über die rote Schale. “Früher gab es davon überall.”

Leas Vater räusperte sich. “Iss ihn nicht, Lea. Äpfel sind gefährlich. Sie könnten Krankheiten übertragen.”

Lea zögerte. Essen sollte man doch eigentlich, oder? Aber was, wenn ihr Vater recht hatte? Sie blickte zwischen ihren Eltern hin und her.

“Es gibt ein Sprichwort, Lea”, sagte ihre Mutter leise. “Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.” Sie seufzte. “Es bedeutet, dass Essen mehr ist als nur Nahrung. Es ist Genuss, Freude, Erinnerung.”

Lea biss vorsichtig in den Apfel. Saft explodierte auf ihrer Zunge, süß und säuerlich zugleich. Ein Geschmack, den sie nicht kannte, der aber seltsam vertraut wirkte. Bilder blitzten vor ihren Augen: Obstbäume voller roter Äpfel, Menschen, die lachend in Wiesen pflückten.

Ihre Eltern beobachteten sie mit angespannten Gesichtern. Lea kaute langsam weiter. Mit jedem Bissen kamen mehr Erinnerungen. Ein Gefühl von Wärme und Fülle, das sie nie gekannt hatte. War das so das Leben vor der strengen Rationierung?

Plötzlich riss lautes Klopfen an der Tür sie aus ihren Gedanken. “Lebensmittelkontrolle!”, brüllte eine Stimme von draußen.

Lea erstarrte. Der Apfel fiel aus ihrer Hand und rollte auf den Boden. Ihre Eltern sahen sich entsetzt an. Hatte jemand sie verraten?

Ein kalter Schweiß brach Lea aus. Sie hatte die strengen Regeln gebrochen. Was würde jetzt passieren? Würden sie bestraft werden, weil sie echtes Essen besaßen?

Die Schläge gegen die Tür wurden lauter. Lea presste sich an ihre Mutter, die sie zitternd in den Arm nahm.

“Verstecken Sie den Apfel!”, flüsterte ihr Vater panisch. Aber wohin? Es war zu spät.

Die Tür splitterte mit einem lauten Krachen auf. Zwei Gestalten in weißen Schutzanzügen stürmten herein. “Was haben wir hier?”, fragte ein Mann mit strengem Gesicht.

Leas Blick fiel auf den Apfel, der unschuldig auf dem Boden lag. Ein Symbol einer verlorenen Vergangenheit, ein Vergehen gegen die strengen Regeln ihrer dystopischen Welt.

Der Mann in dem weißen Anzug bückte sich und hob den Apfel auf. Er drehte ihn in seinen Händen, musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. “Wo haben Sie das her?”, fragte er Lea’s Vater mit rauer Stimme.

Schweißperlen standen auf der Stirn von Leas Vater. “Das… das ist nichts”, stotterte er. “Nur Spielzeug. Ein Apfel aus Plastik.”

Der Mann schnaubte verächtlich. “Ein Apfel aus Plastik? Glauben Sie, ich bin dumm?” Er richtete seinen Blick auf Lea. “Sag die Wahrheit, Mädchen. Wo ist der Rest versteckt?”

Lea schüttelte den Kopf, Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wagte es nicht zu sprechen.

Die Frau neben dem Mann trat vor. Sie hatte ein Gerät in der Hand, das über den Apfel fuhr und piepste. “Es ist echt”, sagte sie ruhig. “Unverändertes Obst.”

Ein eisiges Gefühl kroch Lea den Rücken hinauf. Ihre Eltern hatten Recht gehabt. Der Apfel war gefährlich. Die Lebensmittelkontrolleure blickten sich finster an.

“Nehmt sie mit”, sagte der Mann knapp. “Sie kommen mit uns zur Umerziehungsanstalt.”

Lea schrie auf. “Nein! Bitte nicht!” Sie klammerte sich an ihre Mutter.

“Es tut mir leid, Kind”, sagte ihre Mutter mit erstickter Stimme. “Aber es gibt kein Entkommen.”

Die beiden Gestalten packten Leas Eltern an den Armen und zerrten sie zum Ausgang. Lea versuchte sich loszureißen, aber sie war zu schwach.

An der Tür blieb der Mann mit dem Apfel stehen. Er betrachtete Lea für einen Moment, dann warf er ihr den Apfel zu. “Iss ihn auf”, sagte er mit emotionsloser Stimme. “Vielleicht weckt er ja dein Gedächtnis.”

Lea fing den Apfel reflexartig. Ihre Eltern waren bereits durch die Tür verschwunden. Die beiden Gestalten in Weiß folgten ihnen und schlossen die Tür hinter sich ab.

Lea stand wie angewurzelt da, den Apfel fest in der Hand. Tränen strömten über ihr Gesicht. Was würde mit ihren Eltern passieren? Und warum hatte der Mann ihr den Apfel gegeben?

Sie betrachtete den Apfel in ihrer Hand. Er war nicht nur ein Symbol der Vergangenheit, sondern jetzt auch ein Zeichen der Hoffnung. Hoffnung, dass es vielleicht doch noch ein Leben außerhalb der strengen Rationierung gab.

Mit zitternder Hand biss Lea wieder in den Apfel. Der Geschmack war immer noch süß und sauer zugleich, aber jetzt schmeckte sie auch etwas anderes – Rebellion.

Sie wusste nicht, was die Zukunft bringen würde, aber sie wusste eines: Sie würde kämpfen, um ihre Eltern zurückzuholen und die Wahrheit über die Vergangenheit zu erfahren. Der Apfel war ihr Schlüssel, ihr Verbündeter in diesem Kampf.

Lea kaute weiter, entschlossen, das Geheimnis des Apfels zu lüften und die verlorene Welt ihrer Eltern wiederzufinden.

Wörterverzeichnis:

wühlen (to rummage)

fassungslos (stunned)

tränenerfüllt (tearful)

verwirrt (confused)

Genuss (pleasure)

zögern (to hesitate)

Brot (bread)

explodieren (to explode)

säuerlich (tart)

vertraut (familiar)

blitzen (to flash)

Wiese (meadow)

angespannt (tense)

kauen (to chew)

Bissen (bite)

Schweiß (sweat)

verraten (to betray)

Klopfen (knocking)

Lebensmittelkontrolle (food control)

brüllen (to yell)

Gestalt (figure)

Schutzanzug (protective suit)

streng (strict)

Gesicht (face)

mustern (to scrutinize)

zusammenkneifen (to squint)

verächtlich (contemptuous)

dumm (stupid)

verstecken (to hide)

piepsen (to beep)

eisig (icy)

Rücken (back)

finster (grim)

Umerziehungsanstalt (re-education facility)

erstickt (choked)

Entkommen (escape)

zerren (to drag)

reflexartig (reflexively)

emotionslos (emotionless)

wecken (to awaken)

angewurzelt (rooted)

Strom (stream)

Rebellion (rebellion)

kauen (to chew)

zitternd (trembling)

lüften (to uncover)

(grinsen) – (to smirk)

Last Updated on March 27, 2024
by DaF Books

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