Die Sturmfrei Nacht

“Heute Abend ist die Wohnung endlich Sturmfrei“, sagte Oma Emma und klapperte zufrieden mit dem Staubsauger durch die Diele.

Emma genoss ihre Abende allein. Ihre Enkelkinder verbrachten die Woche bei den Eltern und ihr Mann, Rudi, war vor zwei Jahren verstorben. Heute hatte sie sich vorgenommen, den Keller endlich aufzuräumen. Ein Ort, den sie mit Rudi zusammen seit Jahren vermieden hatten.

Der Keller war dunkel und feucht. Spinnweben hingen wie graue Vorhänge von der Decke. Emma knipste die nackte Glühbirne an und der Raum füllte sich mit flackerndem Licht. Staubkörchen tanzten in der Luft. In der Mitte des Kellers stand eine alte Truhe, die mit schweren Eisenbeschlägen versehen war.

Emma erinnerte sich vage, dass Rudi etwas darin aufbewahrt hatte, aber sie konnte sich nicht genau erinnern, was. Neugierde packte sie. Mit etwas Mühe hob sie den Deckel an. Modergeruch schlug ihr entgegen.

In der Truhe befanden sich allerlei alte Gegenstände: verstaubte Fotoalben, zerbrochenes Spielzeug und eingetrocknete Farbdosen. Ganz hinten lag ein kleines, schwarzes Buch, gebunden in Leder, das schon bröckelte.

Emma zog das Buch heraus und wischte den gröbsten Staub ab. Auf dem Einband prangte ein Pentagramm, eingefasst von seltsamen Symbolen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie schlug das Buch vorsichtig auf.

Die Seiten waren mit fremdartigen Schriftzeichen gefüllt. Darunter standen handgeschriebene Notizen in Rudis krakeliger Handschrift. Emma konnte nur Bruchstücke entziffern: “Verbotetes Ritual”, “Tor öffnen”, “Macht…”.

Panik stieg in ihr auf. Was hatte Rudi mit diesem Buch gemacht? Hatte er damit etwas zu tun gehabt mit den merkwürdigen Geräuschen, die sie manchmal nachts aus dem Keller gehört hatte?

Plötzlich ging das Licht aus. Der Keller war in völliger Dunkelheit gehüllt. Emma stolperte zurück und stieß gegen die Truhe. Der Deckel fiel mit einem lauten Knall zu.

Ein eisiger Wind pfiff durch den Keller. Emma fror, obwohl es im Sommer war. Sie tastete nach der Tür, aber sie war verschwunden. An ihrer Stelle war nur eine glatte Wand.

Eine tiefe Stimme hallte durch den Raum. Sie sprach in einer fremden Sprache, die Emma nicht verstand, aber die böse Absicht war unüberhörbar.

Emma schrie. Sie schrie nach Rudi, nach ihren Enkelkindern, nach irgendjemandem. Aber es gab keine Antwort. Sie war gefangen, allein mit dem Bösen, das Rudi hereingelassen hatte.

Der Wind heulte immer lauter. Emma sank auf den kalten Boden und presste das Buch an sich. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, aber sie wusste, dass sie niemals wieder Sturmfrei haben würde.

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